"Daß diese Familien aus der Gegend des Horst-Wessel-Platzes wegkommen müssen, steht fest (...) Aber es erscheint unmöglich, das jüdische Element aus der weiteren Umgegend der Linienstraße völlig zu verbannen."[1]
Abriss des Scheunenviertels ist eine Erfolgsserie, die sich über zwei Staffeln hinzog und das Ende des Scheunenviertels als auch die Geburt des Platzes in ihrem heutigen Sinne dokumentierte.
- 1906-1908: Erste Staffel, Entstehung des Platzes
- 1934-1935: Zweite Staffel, Entstehung der Nazi-Bauten
- eine Dritte Staffel war für 1989 in Planung, wurde aber kurzfristig abgeblasen, weil plötzlich alle ein anderes Programm schauten wollten
Staffelübersicht
Prequel
Das Scheunenfeld hatte sich in den vergangenen Jahrzehnte zum Schmuddelkind der immer schneller wachsenden märkischen Kleinstadt, die nun Reichsstadt war, gemausert. Erste Bestrebungen, die Kaiser-Wilhelm-Straße weiterzuführen, begannen 1861. Mit dem Abriss der Königsmauer sei im unmittelbaren Umfeld ein der Stadt geradezu unwürdiges Ruinenfeld entstanden. In einem städtebaulichen Entwurf von August Orth war bereits eine Weggabelung zu erkennen, die sich jedoch um das damalige Victoria-Theater einige Meter weiter südlich vollzog. Das Vorhaben wurde abgelehnt, unter anderem weil die Grundstücke bis zur Hirtenstraße zu nah der möglichen Straßenverlängerung lagen.[2] Auch ein 1894 von Privatunternehmern vorgelegter Entwurf, der den Abbruch sämtliche Häuser zwischen Lothringer Straße, Hirtenstraße, der Alten Schönhauser Straße und der Prenzlauer Allee vorsah, scheiterte.
1874 wurden der Stadtgemeinde Berlin das Recht verliehen, die Regulierung der engen Gassen durch Aufkauf der zugehörigen Grundstücke zu erwerben. 1889 wurde ein weiteres Gesetz erlassen, dass die Enteignungen von Grundstücken gewährleistet, wenn es der Verbesserung des Straßenbildes dient. Enteignungen um neue Fluchtlinien zu schaffen waren von nun an leichter möglich.[3]
Am 24. November 1900 wird ein von der Tiefbauverwaltung eingereichter Antrag von der Gemeindeverwaltung gebilligt, in dem eine Kabelung der Straßenzüge Alte Schönhauser Straße sowie Prenzlauer Allee mit der Lothringer Straße vor deren überlasteter Kreuzung herbeigeführt werden sollen. Damit war die Schaffung des dreieckigen Areals beschlossen.[4]
1902 wurde die endgültige Genehmigung zum Abriss des Scheunenviertels erteilt. Die Regierung stellte 13,3 Millionen Mark zur Verfügung. Bereits zwei Jahre zuvor begann die Stadt bereits damit, die betroffenen Grundstücke aufzukaufen. Zunächst müsse jedoch sichergestellt werden, dass auch alle dort lebenden Menschen woanders eine Unterkunft erhalten würden. Sämtliche eingereichte Klagen von An- und Einwohnern wurden abgewiesen. Dadurch verzögerte sich der Abriss weiter. In der Gemeindeverwaltung wurde die Beauftragung eines privaten Unternehmens in Erwägung zu ziehen.
Am 23. Mai 1905 drängte der Stadtverordnete Borgmann erneut auf ein energisches Vorgehen zur Regulierung des Viertels und der Erschaffung eines Radialsystems, da die Spannung auf dem Wohnungsmarkt inzwischen gewichen sei.[5]
Erste Staffel (1906–1908)
1905 beauftragte der Berliner Magistrat die Scheunenviertelkommission zur Abwicklung des Abrisses.
Sukzessive wurde das Areal nun dem Erboden gleichgemacht:
- Januar 1906: 6 Häuser in der Amalien-, Koblank- und Weydingerstraße
- September 1906: 8 weitere Häuser
- Oktober 1906: 3 Häuser in der Linienstraße, Lothringerstraße Nr. 109, 110, 111, 112
Ende 1906 war auf 30 Grundstücken der Abriss bereits vollständig vollzogen. Die letzten Enteignungen wurden 1907 vollzogen. Am 29. Juni 1908 heißt es: "Nach Abbruch des Scheunenviertels haben die nachgenannten Straßen: Amalien-, Füsilier-, Koblank- und Weydingerstraße aufgehört zu bestehen".[6]
Während der Ausstrahlung der letzten Folgen ereignete sich im April 1908 der Mord an Hermann Blechert. Der Täter hatte die Leiche (bzw. ein Paket von fünf) mit einem einem Stein beschwert, den die Ermittler recht schnell einem Abrisshaus in der Kleinen Alexanderstraße Ecke Linienstraße zuordnen konnten. Daraufhin konzentrierte sich die Suche auf die weiteren abgebrochenen Grundstücke. In einem noch halb stehenden Küchenraum in der ehemaligen Koblankstraße fand sich zum Beispiel eine Blutlache, die zunächst für viel Aufsehen sorgte. Kurze Zeit später entdeckte man allerdings auch Federn und ging davon aus, dass dort wohl jemand versucht hatte, einen Broiler zuzubereiten und dabei einfach nur sehr ungeübt war. Auch wenn der eigentliche Tatort später wenige hundert Meter vom Areal entfernt eruiert wurde, war der Lebensmittelpunkt des Mordopfers in seiner Zeit in Berlin vor allem die neue brache Fläche, wodurch er zum stillen Helden der ersten Staffel des Abrisses avancierte.
Insgesamt war die Fläche des ersten Abrisses 44544 qm groß und beinhaltete 119 Grundstücke. Rund ein Drittel der Grundbesitzer wurde enteignet. Die Miete für die bereits eingezogenen Grundstücke wurde zu 25% erlassen.[7]
Zweite Staffel (1934-35)
Nachdem der Bau der Volksbühne sowie des Adler-Hauses nicht für die ersehnte Aufwertung des Platzes beigetragen haben, sorgte die Polizistenmorde von 1931 vielmehr dafür, dass Stadt und Magistrat sich abermals dem Problem Kind Scheunenviertel annahmen und eine zweite Staffel des Abrisses in recht braunen Zeiten beschloss. Grund dafür dürfte vor allem gewesen sein, dass die zu nicht geringen Anteil jüdische Bevölkerung der neuen Regierung nicht gerade als Aushängeschild für eine Hauptstadt des Dritten Reiches zusagte. Dass der Platz zum Aushängeschild für des Ober-Hosts Germania werden sollte, war der Grund, warum das Projekt recht schnell vorangetrieben wurde.
1934 wurde der Abriss der Häuser zwischen Volksbühne und Lothringer Straße beschlossen.[8] Im September des Jahres begann man mit dem Ankauf der Grundstücke.[9]
Den Abbruch teilte man in zwei Etappen ein:
- 1. Phase 1934: Abbruchgelände auf Linienstraße 72 von vor 1914 mit Neubau 72 Wohnungen (274 Wohnräume), Kosten 609.000 RM ohne Reichssubventionen.
- 2. Phase 1935: Abbruch von 15 Wohngebäuden (616 Wohnräume) und 21 Läden und Gewerben. Alter zwischen 60 und 150 Jahren.
Adresse | Grundstücksgröße | ggf. Verkaufspreis |
---|---|---|
Linienstraße 18 / Lothringer Straße 106 | 703 qm | 70.000 RM |
Linienstraße 19 / Lothringer Straße 105 | 830 qm | enteignet |
Linienstraße 20 / Lothringer Straße 104 | 480 qm | 50.000 RM |
Linienstraße 21 / Lothringer Straße 103 | 532 qm | enteignet |
Linienstraße 22 / Lothringer Straße 102 | 506 qm | 70.000 RM |
Linienstraße 23 / Lothringer Straße 101 | 224 qm | enteignet |
Linienstraße 24 / Lothringer Straße 100* | 506 qm insg. | 67.000 RM insg. |
Linienstraße 25 / Lothringer Straße 99 | 226 | 25.500 RM |
Linienstraße 26 / Lothringer Straße 98 | 502 qm | 85.000 RM |
Linienstraße 27 / Lothringer Straße 97 | 513 qm | 85.000 RM |
Linienstraße 28 / Lothringer Straße 96 | 495 qm | 50.000 RM |
Linienstraße 29 / Lothringer Straße 95 | enteignet | |
Linienstraße 30 |
* Beim Aufkauf in zwei verschiedene Parzellen aufgeteilt.
Die Nazi-Bauten streben ein weniger dichtes Wohnen an. Vor allem die Anzahl der Gewerbeeinheiten wurde stark reduziert. Vor allem in den Pappschachteln in der Linienstraße gab es nach der Neubebauung keine Ladenwohnungen mehr.
Die Gesamtkosten für den zweiten Abriss und die Neubebauung umfasste 2.066.000 RM.[10]
Links
- J.F. Geist & K. Kürvers: "Das Berliner Mietshaus II. 1862 - 1945", Prestel Verlag GmbH + Co., München 1989
Referenzen
- ↑ "Kommission des Berliner Magistrats zur Sanierung des Baublocks nördlich des Hortst-Wessel-Platzes" Protokoll Sitzung am 08.02.1934 zitiert in: H. Helias: Die Grenadierstrasse im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto mit offenen Toren, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 20210
- ↑ http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-8902471
- ↑ https://digital.zlb.de/viewer/image/16329664_1882_1888_1/68/
- ↑ http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-11088588. 117 bebaute Grundstücke mit einem Flächeninhalt von etwa 42 970 qm mussten für die Umsetzung des Vorhabens erworben werden.
- ↑ http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-8781305
- ↑ S. Steglich, P. Kratz: Das falsche Scheunenviertel., Oliver George Verlagsbuchhandlung, Berlin 1994
- ↑ http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-11589698
- ↑ Amtsblatt für den Landespolizeibezirk Berlin Ausgabe 1934
- ↑ Stenographische Verhandlungsberichte über die Beratungen mit den Ratsherren der Reichshauptstat Berlin Ausgabe 1.1934 Nr. 2., 27. September 1934
- ↑ H. Bodenschatz, Platz frei für das Neue Berlin, Studien zur Neueren Planungsgeschichte,Transit 1987.
denkwürdige Ereignisse im ∇ geeignet zum Nachlesen und Nacherzählen |
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1906–08: Abriss (Staffel 1) |